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Conscious Caucasus

Land aus Stein und Trails im Dornröschenschlaf

„No Eddi NOOO!“ Susi’s Stimme überschlägt sich fast, als sie sieht wie Eddi eines meiner Pedale an ihrer Federgabel vorbeischrammt. Eddi ist unser Fahrer, er ist Mitarbeiter beim lokalen WWF und er ist eine Seele von Mann. Wie noch so oft in diesen Tagen antwortet er mit leichtem Unverständnis uns westlichen Mountainbikerinnen gegenüber: “Do not worry, be happy.“ Zudem sieht er es trotz unseres Protestes als seine unbestreitbare Aufgabe, die Räder im Geländewagen zu verstauen. Die Rolle der Frau ist hier doch eine andere. Es gibt hier keinen internationalen Frauentag, sondern gleich einen ganzen Frauenmonat. Bis in die entlegensten Dörfer wird der Brauch eingehalten, im März alle weiblichen Wesen mit Blumen zu überhäufen.

Wir sind mit unseren Mountainbikes in ein Land gereist, das für uns bis dahin ein weißer Fleck auf der Landkarte war. Armenien, ein Land so groß wie Brandenburg. Der älteste christliche Staat der Erde liegt abseits der herkömmlichen Reisepfade – uralt, steinig und zerklüftet mit einer bewegten Geschichte, spektakulären Sakralbauten und archaischen Landschaften. Wir sind hier um ein neues Bewusstsein zu entwickeln, durch Natursport zum Naturschutz. Unser Projekt heißt: Conscious Caucasus. Es ist von der ersten Stunde an eine Reise, die all unsere Sinne fordert und fördert. Jede Erinnerung an dieses einzigartige Abenteuer wird uns später ein Lächeln ins Gesicht zaubern.

Armenien ist ein Binnenstaat im Kaukasus, ein Hochgebirgsland zwischen Georgien, Aserbaidschan, dem Iran und der Türkei. Ein Land, das genau an der geographischen, weltpolitischen und kulturellen Grenze zwischen Europa und Asien liegt. Kaum ein Volk hat eine tragischere, konfliktreichere Geschichte hinter sich. Die Beziehungen Armeniens mit den anderen Kaukasus-Ländern sind bis heute angespannt, die Grenzen zur Türkei und Aserbaidschan sind geschlossen, nur über Georgien und Iran kann das Land Handel betreiben. Auch die Folgen des schweren Erdbebens von 1988 mit dreißigtausend Toten lasten schwer auf dem armen Land, das nur wenige Rohstoffe hat. Vierzigtausend junge Armenier verlassen jedes Jahr ihre Heimat, hier haben sie keine Chance, keine Perspektive, keine Hoffnung.

Besorgt dass doch noch ein schwerer Rucksack auf den sensiblen Laufrädern landet, lassen wir Eddi nicht aus den Augen. “Do not worry“ kommentiert er weiterhin jeden unserer Blicke. Endlich kann die Heckklappe geschlossen werden und wir sind bereit von der Hauptstadt Jerevan, die älter als die Zeitrechnung ist, in den entlegenen Südosten Armeniens aufzubrechen. Wir werden von einem dreiköpfigen Team des WWF Armenia begleitet, dem Direktor Karen Manvelyan, dem lokalen Projektkoordinator Vasil Ananyan und dem internationalen Projektleiter Matthias Lichtenberger. Auch Emma, Armenierin und ehrenamtliche WWF Mitarbeiterin sitzt in einem der Geländewagen. Emma träumt davon Filmemacherin zu werden und sie liebt Fahrradfahren. Aber Mountainbiken abseits befestigter Straßen auf Wanderwegen? „ Votsh! You are crazy people!“, dennoch wird sie uns stückweise auf ihrem Fahrrad begleiten.

Auf der langen Fahrt in die Tatev Region erfahren wir, dass die Nationalfrucht die Aprikose ist, dass entlang der Straße der Rotwein in Plastikflaschen verkauft wird, dass das Nationalsymbol, der biblische Berg Ararat, heute unerreichbar hinter der türkischen Grenze steht und dass Noahs Arche einst nach der Sintflut auf dessen Gipfel gestrandet ist. Wir bekommen interessante Einblicke in die Topografie des Landes und in die Projekte des WWF, die aus Deutschland und von der Europäischen Union finanziert werden.

Europas letzte Wildnis, der Kaukasus, gilt als eine der Schwerpunktregionen des WWF Deutschland. Die Gebirgsregion zwischen Europa und Asien gehört zu den ökologisch vielfältigsten Gebieten der Erde. Auf einer Fläche so groß wie Deutschland, Österreich und Schweiz erstrecken sich über hundert verschiedene Landschaftstypen mit einer enormen Artenvielfalt. Gletscher, Wälder, Steppen, Bergwiesen, Feuchtgebiete beheimaten mehr als 7000 Arten, darunter zahllose seltene und viele bedrohte Tiere und Pflanzen. Auch Europas letzte Großkatze, der Kaukasus Leopard hat hier seinen natürlichen Lebensraum. Wilderei und Wirtschaft dezimierten jedoch seinen Bestand auf 40 bis 65 Tiere, davon leben 10 bis 15 in Armenien.

Um neue Anreize für den Erhalt und die nachhaltige Nutzung des einzigartigen Naturerbes zu setzen, hat sich Anfang dieses Jahres der WWF Armenia mit einer lokalen Initiative zusammengeschlossen, mit dem Ziel den Ökotourismus in der Tatev Region auszubauen. Die 2010 eröffnete Seilbahn, mit 5.7 Kilometern die längste Pendelbahn der Welt soll dabei einen attraktiven touristischen Anziehungspunkt bieten. Die Bahn überspannt vom Dorf Halidzor aus die spektakuläre Vorotan Schlucht, den Gran Canyon Armeniens, hinüber nach Tatev. Tief unten rauscht eindrucksvoll der Vorotan, an seinen Seiten klaffen felsige Schluchten mit dichten Wäldern. Auf einem großen, steilen Felsvorsprung thront eine im 9. Jahrhundert erbaute riesige Klosteranlage. Das Kloster von Tatev. Universität, spirituelles und politisches Zentrum, Bischofssitz. Wo im Mittelalter Mönche aus dem ganzen Kaukasus studierten und man jeden Tag dreimal die Messe sang.

Susi und ich drücken unsere Nasen an die Kabinenscheiben der Seilbahn. Direkt vor uns führt ein Steig wie aus einem Märchenbuch von der Klosteranlage steil hinunter in die Schlucht zu einem alten überwucherten Kloster. Immer wieder versteckt er sich neckisch im wildromantischen Dickicht, „Schau, da. Da ist er wieder.“ Matthias, der vor zwei Jahren mit Kind und Kegel von Berlin nach Jerevan gezogen ist, verfolgt unser aufgeregtes Gespräch. Freudestrahlend zeigt er in dieselbe Richtung und preist uns die Strecke an, sie sei steil und kurvenreich, aber sehr gut fahrbar mit Mountainbikes. Begeistert schauen wir ihn an, um dann entgeistert festzustellen, dass er die schottrige Serpentinenstraße meint, die vom Dorf in die Schlucht zur sogenannten Teufelsbrücke führt. Nein, nicht an Erdpisten oder Sandstraßen seien wir interessiert, sondern an schmalen Viehpfaden und anspruchsvollen Wanderwegen. Jetzt ernten wir die entgeisterten Blicke, die wir vorher ausgesät haben.

Doch bevor wir den Wandersteig unter unsere Stollen nehmen können, erwartet uns in Tatev eine Delegation von Wildhütern und mit ihnen eine Einweisung in die armenische Küche. Wir sind am Abend zu einem traditionellen Festessen im Hause des Bürgermeisters eingeladen. Noch wissen wir nicht, dass wir einige Stunden lang mit vollem Bauch an einem Tisch sitzen und vergeblich versuchen werden, die Hausfrau höflich darauf hinzuweisen, dass auch wirklich nichts mehr Platz hat auf unseren Tellern. Von unseren Bäuchen ganz zu schweigen. Wir lernen, dass es als grundsätzlich unhöflich gilt, ein Glas Wein, Cognac oder Wodka zu trinken, bevor ein Trinkspruch ausgesprochen wird. Hierzu übernimmt der Hausherr oder der älteste und angesehenste Mann den Tischvorsitz und spricht als Tamada immer wieder wortreiche Toasts aus, auf Gäste, Väter, Mütter, Kinder, Geschwister, Großeltern, Kollegen, Freunde. Jeder dritte Toast wird aber den Frauen gewidmet, ihrer Schönheit und Anmut, bei dem dann alle Männer sich erheben. Wie schon gesagt, die Rolle der Frau ist hier eine andere.

Ob der viele Wodka Schuld ist, dass wir am Tag danach trotz fieberhafter Suche den Einstieg in Nähe der Klosteranlage nicht finden können? Jeder anfangs vielversprechende Pfad oder Karrenweg verliert sich nach einigen Metern im grasigen Nichts oder im dichten Dorngestrüpp. Trotz bleiernem Kopf wird uns eines klar, ohne Wegweiser oder Markierungen werden wir nicht fündig. Und Mountainbiken spielt sich in Armenien noch auf asphaltierten und schottrigen Straßen ab. Jede Frage nach dem Steig endet daher zwangsläufig auf der Serpentinenstraße. Kurve für Kurve hangeln wir uns wieder in die Schlucht hinunter mit dem Ergebnis, dass wir die fünfhundert Höhenmeter Schotterpiste unverrichteter Dinge wieder rauftreten müssen.

Gastfreundlichkeit der Armenier: so legendär wie der Cognac

Noch etwas entmutigt von unserer gescheiterten Wegsuche radeln wir in das nahegelegene Tandzatap, einem Hundert-Seelen-Dorf. Hier soll mit Unterstützung des WWF eine Unterkunft für die hoffentlich bald wachsende Zahl an Ökotouristen saniert werden. Von der Terrasse hat man freien Blick auf die gegenüberliegenden Berghänge. Wenn man Glück hat, kann man dort in der Dämmerung Bezoarziegen oder gar Braunbären beobachten. Hier erleben wir die Gastfreundlichkeit der Armenier, die so legendär ist wie der Cognac, so einzigartig wie die Architektur der Kirchen. Ein alter Mann lädt uns in sein Haus ein, er lässt uns nicht ohne weiteres gehen, nicht ohne ein Gläschen Selbstgebrannten, nicht ohne ein Stück Lavash-Brot. Auch wenn die Verständigung erschwert ist, erfahren wir: ein paar Hühner, ein paar Schafe, die Bienenstöcke vor dem Haus, vier Apfelbäume und ein Schlag Kartoffeln, das ist sein gesamter Besitz. Obwohl die Menschen nichts haben, teilen sie gerne.

Bevor wir ins nächste Schutzgebiet aufbrechen, wollen wir uns nochmals auf die Suche nach dem Wanderweg machen. Doch auch dieses Mal rollen wir erfolglos die Serpentinen hinunter. An der Teufelsbrücke angekommen erwartet uns Eddi, die Ladeklappen des Geländewagens schon geöffnet. Auf unsere erneute Nachfrage, ob denn wirklich keiner den Einstieg zum alten Kloster kenne, zeigt uns Karen etwas abseits der Teufelsbrücke einen Steig, der von der Straße aus nicht einsehbar ist. Den könne man aber unmöglich mit Mountainbikes befahren! Ein waschlappenbreiter Trail, der sich zunächst am Hang entlang schlängelt, zwischendurch steil, verwinkelt und technisch, der in einem ultimativ flowigen Showdown endet. Wir können trotz der besorgten Gesichter der WWF Leute, die uns zu Fuß eskortieren, kaum an uns halten. Der Trail, nicht viel an Höhenmetern, führt uns direkt zu dem alten, verwucherten Kloster. Wir wollen uns gar nicht ausmalen, wie es gewesen wäre, wenn wir oben im Dorf schon den Einstieg gefunden hätten.

Jetzt sind wir bereit unsere Reise fortzusetzen. Im Gnishik Schutzgebiet angekommenerwartet uns eine faszinierende Mischung aus Kultur und Natur. Ganz hinten im Tal, auf einem Felsvorsprung über einer spektakulären, im Sonnenlicht rötlich schimmernden Schlucht ruht das Kloster Noravank. Ein durch seine Architektur und seine Abgeschiedenheit besonders reizvolles Kloster aus dem Hochmittelalter, das nahezu mit der felsigen Natur verschmilzt. Ein Wanderweg windet sich auf teils losem Untergrund zunächst über Bergwiesen und dann den Hang entlang hinunter an den Fuß des Klosters. Ohne Hilfe eines Wildhüters hätten wir den Einstieg aber wieder nicht gefunden. Doch mittlerweile hat sich unter den WWF Leuten rumgesprochen, welcher eigenartigen Spielart des Mountainbikensports wir frönen. Hoch über dem Tal schlagen wir am Abend in einer saftigen Bergwiese unsere Zelte auf, absolute Einsamkeit und Ruhe umgeben uns. Die Männer bereiten Khorovats zu, traditionelle armenische Fleischspieße, dazu tischen sie Tomaten- und Gurkensalate auf und reichlich Zwiebeln. In der Ferne leuchtet im letzten Abendlicht weiß die befestigte Grenze zu Aserbaidschan.

Trotz Unruhen und Bürgerkriege setzte der WWF von Anfang an alles daran, die ökologischen Schätze und die Lebensgrundlage der Bevölkerung auch über die Grenzen hinweg zu sichern. In fünf der sechs Kaukasus-Länder ist der WWF mittlerweile aktiv: Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Russland und Türkei. Der Wunsch, das gemeinsame Naturerbe zu schützen, scheint die Nationen zusammenzubringen.

Das Naturschutzreservat Khosrov in Zentralarmenien ist unser letztes Reiseziel. Es ist eine Fahrt auf einer unbefestigten Straße mit unzähligen schlammgefüllten Schlaglöchern, durch leuchtend rote Mohnfelder und saftig bunte Blumenwiesen entlang mäanderartiger Bäche. Am Ende der Straße keine menschlichen Siedlungen, keine Hütten, nur Berge, soweit das Auge reicht. Raubvögel ziehen majestätisch ihre Kreise über den schier unendlichen Weiten unberührter Berglandschaft. Mit dem WWF Wildhüter Alik, einem Bär von einem Mann, gehen wir auf Spurensuche. Der Kaukasus Leopard existierte im Khosrov Gebiet jahrelang nur als Geist. Vom ersten Fußabdruck über Fellbüschel im Gebüsch bis zum erstem Fotonachweis mithilfe einer Kamerafalle vergehen viele Jahre der Ungewissheit. Jeder Nachweis wird seitdem gefeiert, denn der Kaukasus Leopard ist eine wichtige Indikatorspezies. Wird ein Leopard in einem Gebiet nachgewiesen, können die Wildhüter davon ausgehen, dass das Ökosystem dort in intaktem Zustand ist.

Wir haben Armeniens einzigartigen, wilden Lebensraum erkundet und dabei unvergessliche Begegnungen erlebt. Eine Reise so intensiv, dass es schwer ist Armenien zu verlassen, aber noch schwerer ist es nie wieder zu kommen. Die Trails liegen noch im Dornröschenschlaf und warten darauf wachgeküsst zu werden. Das Land hat neben Sandpisten und Karrenwegen eine Vielzahl an alten Wanderpfaden und anspruchsvollen felsigen Steigen zu bieten, alle in atemberaubender Landschaft. Die Crux besteht noch darin, dass es kein markiertes Wegenetz, kein brauchbares Kartenmaterial gibt, nicht für Wanderer und nicht für Mountainbiker. Es bedarf Zeit, Wanderkarten und etwas Trailpflege dann kann in Armenien ein langfristig haltbares natur- und sozialverträgliches Mountainbikeangebot entstehen. Bis dahin träumt Emma nun auch davon Mountainbikerin zu werden.

 

Zu unseren Protagonistinnen:

Susi Huth, passionierte Bikerin, die im Team von “Girls Ride Too” die Leidenschaft zum Bikesport mit Gleichgesinnten teilt. Zusammen mit Sylvia Leimgruber und VAUDE hat sie sich in den Kaukasus begeben, um mehr über die Region und ihre Kultur zu erfahren.

 

Bildergalerie:

Fotos: Third Pole

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