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Soweit die Füße treten

18.06.2016 | Tilmann Waldthaler fährt seit mehr als 40 Jahren mit dem Rad durch die Welt. Er kann und will nicht anders, angetrieben von der stetigen Lust auf Neues. Am Ende ist es eine lange Reise zu sich selbst. Die Einsamkeit überwinden: Tilmann Waldthaler sieht seine ausgedehnten Radreisen, hier durch die Anden, auch als Tour in ein neues Leben. Auf die Idee, die Welt mit dem Fahrrad zu bereisen, kam ich bei einer Begegnung mit einem Fernradfahrer in den australischen Wüstengebieten. Ich importierte ein teures Tourenrad aus Belgien nach Australien und startete im Oktober 1977 zu meiner allerersten großen Radreise. Sie führte mich von Darwin nach Sydney und weiter nach Neuseeland.

Am Ende war ich von mir selbst überrascht: sowohl von meiner Ausdauer wie auch dem Mut, die täglichen Distanzen von 100 bis 130 Kilometern zu bewältigen. Bei Gegenwind, Regen und Sonnenschein, Kälte und Hitze, Anstiegen und Abfahrten. Auf schlechten Straßen galt es, die Einsamkeit zu überwinden. Langsam kurbelte ich mich in ein neues Leben. Ich sah in meiner ersten Fahrradtour eine Entdeckungsreise – nicht, um neue Gebiete zu erforschen und schon gar nicht, um nach Gold oder Opalen zu graben. Diese Fahrradtour war eine persönliche Entdeckungsreise nach innen. Jeder Tag gestaltete sich anders. Und am Ende stand vor allem der Wunsch, noch mehr über mich zu erfahren. Gelernt habe ich die Berufe Koch und Konditor – was sich als gute Basis erwies, um die Welt bereisen und unterwegs arbeiten zu können. Nachdem ich vier Monate mit einer Expedition im Eis der Antarktis zugebracht hatte, bestieg ich in Invercargill, der südlichsten Stadt Neuseelands, mein Fahrrad. Endstation dieser Tour war nach vier Jahren und 55 000 Kilometern das Nordkap in Norwegen – die Reise empfinde ich heute als Schlüsselerlebnis. Ich habe dabei Bob Marley kennengelernt und in einem indischen Ashram Indirah Gandhi. Und im Himalaya die höchsten Pässe (5600 Meter) der Welt mit dem Fahrrad befahren.

Bewegende Momente gab es viele. Nach einem Unfall hat mich in Indien eine Arztfamilie gepflegt. In Pakistan wurde ich für drei Tage von den Taliban herzlich aufgenommen. Im Iran bin ich ganz knapp dem Tod entkommen und habe den Krieg zwischen dem Irak und dem Iran überlebt. Am Schluss in Spitzbergen noch einmal Arbeit: als Koch bei den Dreharbeiten für den Film „Der Flug des Adlers“ mit dem Schauspieler Max von Sydow. Eines ist immer geblieben: viel Zeit. Während die Beine an der Fahrradkurbel drehten, tobten im Kopf die Gedanken. Ich habe gelernt, dass auch negative Impulse wie Anstrengung oder unerfreuliche Begegnungen zu positiven Reaktionen führen können. Ich fing an, die dazu passenden Geschichten in meinem Tagebuch festzuhalten. Mir wurde klar, dass das Radfahren und die damit zusammenhängenden Erlebnisse nicht nur mir neue Ansichten und Einsichten bescherten, sondern auch den Menschen, die ich traf.

Nach dieser langen Reise arbeitete ich wieder als Konditor in Südtirol. Es war damals die für mich beste Gelegenheit, Geld für weitere Touren zu verdienen. Doch im Alter von 46 Jahren, mit vielen geradelten Kilometern in den Beinen und tausenden Erlebnissen im Kopf, verspürte ich immer weniger Freude an meinem Beruf. Ich empfand es zunehmend als langweilig und eintönig, Brötchen zu backen und Torten zu verzieren. Radfahren, Abenteuer, fremde Kulturen und die Vielfalt von Eindrücken, die draußen in der Welt warteten, wirkten wie eine Droge auf mich. Ich wollte mehr davon sehen statt in staubigen Backstuben und dampfenden Hotelküchen zu stehen, noch dazu als Vegetarier. Zu jener Zeit rollten die ersten Mountainbikes durch Europa. Hersteller suchten Werbeträger, die Medien entdeckten den Trend. Der Bedarf an Berichten, Bildern, Interviews und Videos war groß. Fahrradmessen, Events und Werbespots schossen aus dem Boden wie Pilze im Wald. Banken, Autohersteller Versicherungen, Getränkefirmen und die Pharmaindustrie waren sich einig, dass Mountainbiking und Radfahren eine gesunde Alternative zur fernbedienten Glotze und dem Bier zuhause sein könnten. Plötzlich standen das Fahrrad und alles, was damit zusammenhing, hoch im Kurs. Für mich ein glücklicher Zufall.

Ich begann, Pläne zu schmieden für eine Weltumrundung entlang des Äquators. Ein Buch würde ich darüber schreiben und Vorträge halten. Viele Menschen unterstützten meine Idee. Mir wurde klar, dass ich nicht nur meinen eigenen Traum lebte: Während meiner Fahrradtouren war ich wohl auch ein bisschen für andere Menschen unterwegs. Für sie verkörperte ich Abenteuer, Freiheit und ewigen Urlaub. Der radelnde Konditor mit Rauschebart und Wuschelkopf aus Südtirol war mit seinem Bike und der dazu passenden Ausrüstung auf Fahrradmessen in Köln, Friedrichshafen, Mailand, Las Vegas, Sydney, Berlin, München und Den Haag zu sehen. Nach den langen Touren durch viele Länder und auf allen Kontinenten hatte ich die Aufgabe, für Firmen Produkte zu testen und darüber den Herstellern und den Messebesuchern zu berichten. Damit konnte ich meine Existenz sichern, und den Entschluss, meine ursprünglichen Berufe aufzugeben, habe ich nicht zuletzt deshalb nie bereut.

Auch mein privates Glück habe ich letztendlich im Fahrradsattel gefunden. Die mutige, radelnde Krankenpflegerin Renate Traemann hatte ich in Afrika getroffen, in Südtirol entdeckten wir unseren gemeinsamen Lebensweg. Auf dem Fahrrad habe ich gelernt, Entscheidungen schnell zu treffen. Verzögerungstaktik führt oft dazu, dass wichtige Entschlüsse zu spät oder überhaupt nicht gefasst werden. Ich habe stattdessen immer versucht, meine Ideen durchzuziehen. In kritischen Situationen die Ruhe zu bewahren und Hektik zu vermeiden, hat sich dabei als tragfähige Strategie erwiesen. Im Laufe der 40 Jahre haben mir sehr viele Menschen geholfen, meinen Weg zu gehen. Beeindruckend war immer, dass die Hilfsbereitschaft in den ärmsten Gegenden am größten ist.

Auf dem Rad ist man meist einsam, oft erschöpft und bisweilen verzweifelt. Aber es gibt niemanden, der an meiner Stelle einen besonders steilen Anstieg bezwingt oder dem scharfen Gegenwind die Stirn bietet. Das muss ich immer selbst tun, ich kann niemand anderen dafür verantwortlich machen. Was ich daraus gelernt habe? Wenn wir nicht zufrieden sind, dürfen wir den Zeigefinger nicht auf andere Menschen richten und dort die Schuld für dieses und jenes suchen. Den Zeigefinger sollte man vielmehr biegen, auf sich selbst richten und stets den Mist vor der eigenen Haustür wegfegen. Dazu gehört auch: Verständnis zeigen für diejenigen, die es nicht besser wissen. Zuhören statt andere zu belehren.

Und dabei nie vergessen, dass die Welt immer noch eine wunderschöne Kugel ist. Nicht nur aus Sicht eines Radfahrers.

Quelle: Südwest Presse

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