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Ogre-III-Expedition

Skardu, Pakistan, irgendwann in der Nacht zum 26. August. Da stehen sie, zwei der Protagonisten, die sich aufgemacht haben, einen großen Gipfel in der berüchtigten Ogre-Gruppe anzugehen, und geben bestimmt ein erbärmliches Bild ab: Xari in Boxershorts und Handschuhen, ich krank, fiebrig, mit Bauchkrämpfen und Durchfall, zum zweiten Mal in dieser Nacht auf Mäusejagd im Hotelzimmer. Xari schaut auf dem Flur nach, ob die Maus diesmal auch wirklich raus ist, und kommt nach einer überraschenden Begegnung mit einer fetten Ratte schreiend zurück ins Zimmer. Vielleicht sind wir wirklich nicht hart genug für die Ogres, aber wir haben ja noch Rainer. Rainer, der einen langen und bemerkenswerten Weg hinter sich hat, von den Felsen des Elbsandsteingebirges zu den ganz großen Klettereien dieser Erde, zu Royal Flush am Fitz Roy, zu Eternal Flame an den Trango Towers, zu den Bigwalls des El Capitan. Und er ist mit 58 Jahren noch immer nicht müde.

Hinein in eine andere Welt

Mit zwei Geländewagen rumpeln wir nach Askole, dem letzten Dorf. Ich bin immer noch richtig krank und brauche meine ganze Kraft, um mich im Fahrzeug festzuhalten. Am Ziel angekommen will ich nur noch liegen, die anderen schauen sich den Ort an. Askole liegt auf ungefähr 3000 m Meereshöhe. Die Menschen wohnen in einfachen Steinhäusern und leben im Wesentlichen von der Landwirtschaft. Die Expeditionen und Trekkinggruppen bieten für einige die Chance, etwas dazuzuverdienen. Die Winter hier oben sind lang und hart. Der Ort ist dann oft abgeschnitten, weil die einzige Straße verschneit ist. Oder abgerutscht. Ernsthafte gesundheitliche Probleme sollte man besser zu einer anderen Jahreszeit bekommen. Iqbal, der wesentliche Teile unserer Expedition organisiert hat, stammt aus Askole. Er erzählt die Geschichte von einem seiner Brüder, der sich bei der Steinbockjagd aus Versehen ins Gesicht geschossen hat, im Winter, zwei Tagesmärsche vom Ort entfernt. Der verletzte Bruder erreichte Askole zu Fuß und wurde dann von den Männern des Dorfes in einem Rollstuhl geschoben, teilweise auch getragen, bis zu einem Stützpunkt der Armee, der zwischen Skardu und Askole liegt – und überlebte, wenn auch mit einem Auge weniger.

Mehr als nur eine alpinistische Unternehmung

Am nächsten Morgen brechen wir auf Richtung Basecamp, zusammen mit unseren Trägern samt Maultieren und Pferden, unserem einheimischen Trekking-Guide Shakoor, unserem Koch Ali und unserem Küchenjungen Musa. Drei Tage wird der Anmarsch dauern. Mit dem Erreichen des Biafo-Gletschers wird das Gelände zunehmend ruppig. Es geht über Geröll, Fels und Eis, was auf einem Gletscher nun wirklich nicht überraschend ist. Aber wir fragen uns, wie die schwer beladenen Tiere das schaffen sollen. Tatsächlich sind die Maultiere und Pferde ziemlich am Anschlag, denn ein Hufeisen ist einfach kein Steigeisen. Es ist schon fast irrsinnig, welcher Aufwand notwendig ist, damit sich drei Hansel an einem Berg versuchen können. Andererseits: Die Leute sind dankbar für diese Arbeit, und selbst jene Träger, die Lasten auf ihrem Rücken tragen, haben bemerkenswert gute Laune. Und: Wir alle werden in den nächsten Tagen und Wochen ein Stück weit zusammenwachsen. Unsere Expedition wird verbinden, sie wird mehr sein als nur eine alpinistische Unternehmung.

Ein großes, ernstes Ziel

Die Ogre-Gruppe steht für schwierige, gefährliche Berge, für unsicheres Wetter, für viele gescheiterte Expeditionen, für Dramen, für ein paar wenige, dafür herausragende Erfolge. Unser Hauptziel, der Südpfeiler des Ogre III (ca. 6950 m), erscheint im Vergleich zu den Anstiegen an Ogre I und II etwas moderater – obwohl die Route zwischen 6300 m und dem Gipfel harte Bigwall- und Mixedkletterei beinhaltet und der Gipfel überhaupt erst einmal erreicht wurde (im Sommer 2001 von Thomas Huber, Iwan Wolf und Urs Stöcker über den besagten Südpfeiler). Und plötzlich ragt er über uns in den Himmel, dieser gigantische Granitzahn, vor einer Wand aus dunklen Wolken. Nach zweieinhalb Tagen Anmarsch haben wir erstmals freie Sicht auf unseren Berg. Er sieht gut aus, und gleichzeitig unmöglich.

Das lustige Lagerleben

Unser Basecamp liegt geschützt zwischen zwei Moränenrücken und einer grasigen Flanke auf 4470 m. Ein kleiner Bach liefert frisches Wasser, sofern er nicht eingefroren ist, und wir haben jede Menge Platz, denn außer uns ist niemand in der Gegend. Nach einer kurzen Schlechtwetterphase fangen wir an, den weiteren Weg zu erkunden, Material zu schleppen und Fixseile zu verlegen. Zwischen 4800 m und 5100 m führt der Zustieg zum Ogre III durch einen sehr lästigen und nicht ungefährlichen Gletscherbruch, den wir jedes Mal passieren müssen. Der darüberliegende Gletscherkessel ist ganz offensichtlich auch nicht der sicherste Ort, da er von großen Wänden und Flanken umrahmt wir. Zum Glück finden wir unter einer Eisstufe einen halbwegs geschützten Platz für unser nächstes Lager. Die Stellflächen für die beiden Zelte müssen allerdings in stundenlanger Arbeit aus dem Eis gehackt werden. Wir nennen dieses Lager ABC (Advanced Base Camp). Das nächste Lager, Camp 1, richten wir auf 6050 m ein, in einem kleinen Sattel 250 m unterhalb des Südpfeilers. Gleich unterhalb unseres Zelts führt ein steiles Couloir 800 m nach unten, direkt oberhalb kommt eine große Wechte, hinter der eine ebenfalls ungefähr 800 m hohe Wand abbricht. Anfangs hatten wir zur Beruhigung der Nerven ein Seil durchs Zelt gelegt, das vielleicht einen Absturz des Zeltes verhindert hätte. Mit der Zeit wuchs das Vertrauen in die Standsicherheit des Zeltes. Dennoch blieb der Platz ungemütlich, was an den starken Winden und am Schnee lag, der permanent von unten zwischen Innen- und Außenzelt geblasen wurde. Zuerst machten wir den Fehler, das Zelt während einer Schlechtwetterperiode stehen zu lassen. Danach war das Zelt plattgedrückt, weil der Wind viel Schnee zwischen Zelt und Wechte verfrachtet hatte.

Schwierige Entscheidungen

Wieder einmal sitzen wir im Hochlager im schlechten Wetter fest. Es ist schweinekalt, windig und alles ist verschneit. Trotz guter, warmer Stiefel fühlen sich die Zehen leicht angefroren an, genau wie die Fingerspitzen. Wir haben Fixseile bis 6200 m verlegt, doch darüber wird das Gelände erst richtig schwierig. Wir könnten weitergehen, aber es erscheint aussichtslos. An schweres Klettern ist nicht zu denken. Eine grundlegende Wetteränderung ist nicht in Sicht. Am nächsten Morgen bauen wir die Fixseile ab und seilen alles Material über unsere Aufstiegsroute ab, bis zum ABC. Auf der einen Seite bin ich müde und enttäuscht, auf der anderen Seite erleichtert, weil das endlose Abwägen ein Ende hat. Wir sind am Ogre III gescheitert, aber zumindest haben wir unser größtes Ziel erreicht, nämlich dort nicht zu sterben.

Und doch noch ein Gipfel

Es bleiben nur noch wenige Tage, bis wir den Heimweg antreten müssen. Wir nützen die Zeit, um einen kleineren aber formschönen Berg zu erklettern. Xari begleitet Rainer und mich ins ABC, bleibt aber dort, weil er vom Reizhusten starke Schmerzen im Brustkorb hat. Der Anstieg führt zunächst südseitig über eine große Schnee-/Eisrinne zu einem Sattel östlich des Gipfels. Von dort geht es nordseitig weiter, noch vier bis fünf Seillängen zum Gipfelgrat (M5 und ein Pendelquergang über eine glatte Platte). Rainer und ich schaffen den noch unbenannten Gipfel, der laut GPS eine Höhe von 5640 m hat. Wahrscheinlich ist uns die Erstbegehung des Berges geglückt. Am Gipfel lassen wir einen Standplatz aus Klemmkeil und Schlaghaken zurück und Seilen dann über die Route ab.

Bye bye

Einen Monat lang war das Basecamp unser Zuhause. Es war Startpunkt unserer Unternehmungen und Zielpunkt, wenn wir erschöpft abgestiegen sind. Jetzt heißt es Abschied nehmen. Ein letzter Blick zurück, dann machen wir uns auf den langen Weg nach Hause. Eisiger Wind bläst Graupel über den Biafo-Gletscher, dunkle Wolken verdecken die Ogres.

Die ersten Häuser von Askole, zwei Tage später Skardu, bald darauf Islamabad. Europa, Deutschland, Reutlingen. Nach einer großen Reise kommt man ein Stück weit verändert zurück, in eine Welt, die sich weitergedreht hat. Gleich geblieben ist die Überzeugung, dass es sich lohnt, weit zu gehen auf der Jagd nach den seltenen Momenten, in denen wir ganz oben stehen.

Dank

Mein Dank gilt Xari, Rainer und unserem Team von Shipton Treks&Tours für die gute Zeit vor Ort. Außerdem möchte ich mich beim Deutschen Alpenverein, insbesondere bei meiner Sektion (Reutlingen) für die finanzielle Unterstützung bedanken, und natürlich bei meinen langjährigen Sponsoren und Ausrüstern VAUDE, Bergfreunde.de, Edelrid, Lowa und Red Chili. Darüber hinaus wurden wir bei dieser Expedition mit Material unterstützt von Julbo, PowerBar und Osprey – Danke vielmals! Herzlichen Dank auch an Thomas Huber (für alles Mögliche), Karl „Charly“ Gabl (Wetterberichte), Andree Schmidt (medizinische Beratung) und an alle, die an uns gedacht haben und Daumen gedrückt haben!

Text: Fritz Miller

Fotos: Rainer Treppte, Franz-Xaver Mayr, Fritz Miller

Protagonisten: Fritz Miller, Rainer Treppte, Franz-Xaver „Xari“ Mayr – 21. August bis 6. Oktober 2017

 

Bildergalerie:

Comments

One Comment
  1. 3 years ago by Uli
    Beeindruckendes Erlenbis. Mir gefällt der Anfang eures Berichts, dass Ihr die Sache mit der Ratte beschreibt. Kennt Ihr Mo Anthoine, der mit Bonnington und Scott am Ocre unterwegs war und den "Rückweg" organisiert hat? Er nannte solche Touren "Die Ratte füttern" ;-)
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