
Skitouren versprechen Freiheit, Abenteuer und Naturgenuss. In den letzten Jahren ist die Zahl der Tourengeher*innen deutlich gestiegen und jede Saison kommen neue dazu. Damit die Skitour im Idealfall zum perfekten Erlebnis wird, gilt es, einige Dinge zu beachten.
Wir haben mit Martin Herz über die richtige Vorbereitung, das Verhalten am Berg und die Psychologie des Tourengehens gesprochen. Er ist als staatlich geprüfter Berg- und Skiführer Leiter der Jugendbildungsstätte des Deutschen Alpenvereins in Bad Hindelang sowie systemischer Berater und Therapeut.

VAUDE Experience: Tourengehen wird immer beliebter. Was muss ich als Neuling beachten, wenn ich von der Piste in den Powder wechsele?
Martin Herz: Von der Ausrüstung über die Gehtechnik bis hin zur Orientierung im Gelände oder der Einschätzung der Verhältnisse: Es gibt so viel Neues zu wissen und zu lernen, dass ein Ausbildungskurs einen guten Einstieg bietet.

VE: Was unterscheidet eine Skitour von einer „gewöhnlichen“ Bergtour?
MH: Grundsätzlich vielleicht die höheren Anforderungen und noch mehr Eigenverantwortung der Tourengehenden, was u. a. daran liegt:
- Es gibt keine markierten Wege.
- Das Einschätzen von Risiken, v. a. das Lawinenrisiko ist komplex.
- Bei Unfällen ist das „Eis“ wegen der Erfrierungsgefahr dünner.
- Im Winter gibt es in puncto Tierwelt mehr sensible Bereiche als im Sommer. Diese sind aber nicht immer in Form von Ruhegebieten ausgewiesen.
VE: Wie planst Du als Berg- und Skiführer eine Tour in unbekanntes Terrain?
MH: Weitgehend klassisch, nämlich mit topographischer Karte, Lawinenlagebericht und Skitourenführer. Ich ergänze aber mittlerweile durch elektronische Karten und Informationen aus Tourenportalen.

VE: Welche Fehler sollten Tourengeher*innen unbedingt vermeiden?
Die Verantwortung für die eigene Tour muss man selbst übernehmen. Wer unsicher ist oder wem Erfahrung fehlt, dem rate ich zu einem Kurs oder einer geführten Tour.
MH: Ich würde vor allem drei Kardinalfehler nennen. Einer betrifft die Vorbereitung, der zweite die Entscheidungsfindung am Berg und der dritte die Philosophie. Erstens: Zu wenig Kleidung für den Notfall oder eine ausgiebige Rast dabei zu haben, ist im besten Fall sehr unangenehm und kann im Extremfall lebensbedrohlich werden. Apropos Notfall: Wer sich zweitens zu sehr von den Spuren oder Entscheidungen anderer leiten lässt, geht ein hohes Risiko ein. Entscheidungen zu Routenführung, -wahl oder Begehbarkeit sind sehr situativ und hängen auch stark von Tageszeit und Wetter ab. Außerdem spielen persönliche Voraussetzungen wie Fitness, Erfahrung, persönliches Können, Müdigkeit, etc. eine große Rolle beim Treffen der richtigen Entscheidung. Kurz: Die Verantwortung für die eigene Tour muss man selbst übernehmen. Wer unsicher ist oder wem Erfahrung fehlt, dem rate ich zu einem Kurs oder einer geführten Tour. Der dritte Fehler: Den Berg als Fitnessstudio zu sehen. Wer das tut, hat keine Sensibilität für die Natur und läuft Gefahr, die Gefahren am Berg zu unterschätzen.

VE: Sprechen wir kurz über Ausrüstung. Was sind die wichtigsten Gegenstände auf Tour?
MH: Wenn man einen Schuh hat, der nicht reibt, nicht drückt, mit dem man keine kalten Füße bekommt und mit dem man auch noch gut auf dem Ski steht, hat man gewonnen. Sicherheitsmäßig gehört natürlich ein modernes LVS-Gerät [Lawinenverschütteten-Suchgerät], das man im Schlaf beherrscht, zu den wichtigsten Gegenständen.

VE: Du bist Leiter der DAV-JuBi in Bad Hindelang und arbeitest viel mit Kindern und Jugendlichen. Wann ist das richtige Alter, um mit dem Tourengehen anzufangen?
MH: Das Skitourengehen ist schon sehr ausrüstungsintensiv, das gilt natürlich bei noch nicht ausgewachsenen Kindern und Jugendlichen umso mehr. Immer perfektes Material zu haben, wird hier schnell sehr teuer. Es gibt aber den einen oder anderen Kompromiss wie z. B. Toureneinsätze für Alpinbindungen oder Mama oder Papa, die die Alpinski im Rucksack tragen. Insgesamt halte ich z. B. Alpinski oder Langlauf im Kindesalter für einfacher. So ist man dann auch im Jugendalter fit für die erste Skitour.

VE: Jungen Menschen wird nachgesagt, sich immer weniger in Vereinen und mehr in Communitys oder Gruppen im Social-Web zu organisieren. Was kann der DAV tun, um gerade junge und vereinsungebundene Menschen zu erreichen, etwa mit seinen Aufklärungskampagnen zu Sicherheit auf Tour oder Naturschutz?
MH: Diesen Trend spüren wir in der JDAV nicht. Wir haben seit vielen Jahren ein stetes Wachstum auch bei den Kindern und Jugendlichen.

VE: Du bist nicht nur Bergführer, sondern auch Dozent und Mitglied bei der Internationalen Gesellschaft für systemische Therapie (IGST) und arbeitest psychologisch und erlebnispädagogisch. Was können Berg- und Skitouren für die Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen leisten?
Insgesamt sind Naturräume in allen vier Jahreszeiten spannende analoge Erlebnis- und Spielräume für Kinder – und wenn wir es nicht verloren haben, auch für uns große Kinder.
MH: Insgesamt sind Naturräume in allen vier Jahreszeiten spannende analoge Erlebnis- und Spielräume für Kinder – und wenn wir es nicht verloren haben, auch für uns große Kinder. Da gibt es tausend Dinge zu beobachten, zu bauen, zu erkraxeln. Im Kern geht es immer wieder darum, sich in der Auseinandersetzung mit kleinen Herausforderungen als wirksam zu erleben. Übrigens: Auch das Scheitern ist hier wichtig – ohne die Erfahrung des Scheiterns hebt sich das Erfolgserlebnis nicht als besonders ab.
VE: Gibt es eine besondere Psychologie der Berge?
MH: … der Gedanke ist mir ein wenig zu konstruiert.

VE: Sprechen wir noch einmal über den Boom. DAV und VAUDE sind nicht nur langjährige Partner, sondern Nachhaltigkeit und Naturschutz besonders verpflichtet. Vor wenigen Wochen haben die beiden Partner nach zwanzig erfolgreichen Jahren ihre Zusammenarbeit bis 2025 verlängert. Wie bringen wir den Run auf die Berge und Ökologie unter einen Hut? Was hältst Du von Tipps wie antizyklischem Gehen (mögliche Probleme mit Wildtieren, Jagdnutzung, etc.), oder überlaufene Routen zu verlassen (weniger Ruheräume für Wildtiere, ggf. Selbstüberforderung, höhere Risiken, etc.)?
MH: In den Anfängen gab es wenige Alpinist*innen, die viel Aufwand betrieben haben, um unter Einsatz ihres Lebens Grenzen zu verschieben und Neuland zu entdecken. Heute wird suggeriert, dass jede*r unter Einsatz von Null Risiko mit wenig Aufwand Positives erleben kann. Die sozialen Medien tragen zu dieser Kluft zwischen Schein und Sein bei. Berge und Naturräume werden dabei in Teilen eher zum Sportgerät degradiert und über Höhenmeter und Zeiten messbar gemacht. Dieser gesellschaftliche Trend wird sich so schnell nicht verändern, darum braucht es wohl in Zukunft Lenkungen auf der einen Seite und Ausbildung auf der anderen Seite. Neben allem fachsportlichen und ökologischen Wissen halte ich die Frage, wie wir als Gruppe gemeinsam unterwegs sind, für ziemlich interessant.

VE: Hand aufs Herz: Was geht in Dir vor, wenn Du die zugeparkten Straßen an den Hotspots siehst? Freude, dass es mehr Menschen in die Natur zieht oder Sorge, dass sie darunter leidet?
MH: Bei jungen Menschen freue ich mich über jede Minute, die sie nicht vor einem elektronischen Gerät verbringen. Der heuschreckenartige Befall der bayerischen Alpen mit Skitourengängern im letzten Winter hat natürlich auch mich besorgt zurückgelassen.

VE: Verrate uns zum Abschluss Deine liebste Skitour in den Alpen.
MH: Wenn sie mit dem E-Bike von zuhause startet, ist sie schon ziemlich weit vorne …
VAUDE Experience: Vielen Dank für das Gespräch!

Zum Weiterlesen – Tipps aus der Experience-Redaktion:
- Mehr über Martin Herz auf der Seite der Internationalen Gesellschaft für Systemische Therapie (IGST)
- Der Deutsche Alpenverein hat viele gute Tipps zum Tourengehen auf und abseits der Piste auf einer speziellen Webseite und auf Youtube
- Die DAV-Jungendbildungsstätte in Bad Hindelang
- Die richtige Skitourenbekleidung von VAUDE
- Hilfreiche Tipps wie ihr selbst eure Skitouren nachhaltiger gestalten könnt
- Der Rother Bergverlag bietet eine breite Auswahl an Skitourenführern und -ratgebern
- Ebenso der Panico Alpinverlag mit seinen Skitourenführern

Comments