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… fast wie zu Hause, was für ein tolles Gefühl …

Wie schnell man sich doch an ein Leben gewöhnt, in dem man sich auf der untersten maslowschen
Bedürfnisskala so wohlfühlt wie Berlusconi in seinem Whirlpool. Ich liege auf meiner Matte, hier im
Basislager, und sehe nur Rot um mich herum – fühlt sich das gut an …
Vor zwei Wochen waren wir gestartet, damals noch luxuriös und mit allen Annehmlichkeiten, die ein
in Mitteleuropa aufgewachsener Menschen so kennt. Damals … hört sich das lange an. Aber es lagen
vielleicht auch Welten dazwischen, seit wir vor zwei Wochen in der Atacama-Wüste gestartet waren.

Passive Akklimatisation

Unser Motto dort lautete: „passive Akklimatisation“. Mit erhöhtem Herzschlag und leichtem
Schwindelgefühl saßen wir in den heißen Quellen auf über 4.000m Höhe und versuchten – dem
Motto getreu – so passiv wie möglich zu sein. Gonzalo, unser neu hinzugewonnener Gefährte, freute
sich diebisch darüber, wie seine Strategie aufzugehen schien. Sein Ziel war unsere Vorbereitung für
die hohen Berge. Ja, eigentlich war er überhaupt derjenige, der schuld war an unserem Glück und
dass wir jetzt hier saßen, im Basislager am Tupungato.

Im Basislager des Tupungato

… Oder war ich der eigentlich Schuldige oder vielleicht doch eher Timon, mein Sohn. Huhn oder Ei?
Egal, wenn Timon nicht seinen alten Vater gefragt hätte, ob wir zusammen auf Expedition gehen
sollten, hätte ich nicht nach einem Berg in Chile suchen müssen und Gonzalo hätte keinen Urlaub
bekommen, doch nun mal langsam und der Reihe nach…

Gonzalo, ein früherer Geschäftspartner, wir kennen uns seit einigen Jahren, bestand darauf, uns am
Flughafen in Santiago de Chile abzuholen. Verwundert waren wir nur, als er mit der Frage kam, ob er
mit uns einige Tage Urlaub verbringen dürfe. Spontan kam ein klares „Ja“, sowohl von Timon wie
auch von mir, denn schon nach den ersten Stunden verstanden wir uns prächtig – und das sollte auch
so bleiben.

Was wir damals nicht wussten, war, dass wir mit einem der größten Spezialisten für Expeditionen in
Chile unterwegs waren. So lernten wir bald, zu tun, was er sagte. Wenn er uns mitteilte: Atacama-
Wüste und passive Akklimatisation – dann machten wir das so. Wenn er sagte: Nächste Woche
gehen meine Freunde auf einen 5.000er, da geht ihr mit, damit ihr euch an die Höhe gewöhnt – dann
machten wir das. Und wenn er sagte: Eure Jacken sind nicht warm genug, dann war das so. Et cetera,
et cetera.

Vorbereitung hilft

Stufe zwei der Höhenanpassung hatte Gonzalo somit festgelegt: der „Ausflug“ mit seinen Freunden.
Die Organisation war bereits vor unserer Zusage abgeschlossen, wie wir bald merkten, und so war
nur ein zusätzliches Maultier anzumieten. Los ging es. Reziprok proportional zur gewonnenen
Höhenanpassung schwand das Bedürfnis nach Luxus. Maultiere statt Auto, Zelt statt Hotel,
Plastikschüssel statt Teller und mein geliebtes Bier wurde durch gefiltertes, eiskaltes Wasser ersetzt.
Das Verwunderliche an der ganzen Geschichte war, dass meine Laune und die Glücksgefühle sich
ebenfalls reziprok proportional verhielten: Je weniger Luxus, umso besser war meine Laune.

Akklimatisierung im Hochlager am Cerro Plomo

Eine super Crew mit fast einem Dutzend Chilenen waren wir unterwegs in den Anden, war das cool.
Am zweiten Tag und nach kurzer Nacht erlebten wir gemeinsam beim Aufstieg auf den Cerro Plomo
das Erwachen des Tages. Das weiche Licht des Morgens gab zumindest ein Gefühl der inneren
Wärme und half gegen den schneidend kalten Wind. Erneut bestätigte sich Gonzalos Aussage:
Unsere Jacken waren nicht warm genug!

Aufstieg Cerro Plomo

Vorbereitung hilft. Meine ehrenamtliche Tätigkeit als Sherpa in den letzten Monaten (ich hatte
meinen Freunden die Kletterausrüstung durch die Berge getragen, wann immer ich konnte) zahlte
sich ebenso aus wie die vielen Yoga-Sessions. Der Schweizer würde sagen: Iihhhschnufa
uusssschnufa. Nach diesem ganz einfachen Prinzip funktioniert die Sauerstoffversorgung.
Konzentration auf die Atmung bringt Vorteile in dieser Höhe. Erfunden hat dies nicht unser
benachbartes Bergvolk, sondern die Yogis.

Auf dem Gipfel des Cerro Plomo

Von dieser Tour blieben einige schöne Bilder, vor allem im Herzen dazugewonnene, liebe
Bergkameraden und die Erkenntnis, dass in Chile die besten Avocados der Welt wachsen. Welcher
Genuss, im Basislager lustvoll eine „mega“-geschmackvolle Avocado zu essen. Wer das nicht kennt,
kennt nicht die Bedeutung von Luxus. Nach dieser Testexpedition wussten wir nun auch, dass alles
passte: unser roter Palast (das VAUDE-Zelt, unser Zuhause, in dem wir uns sicher fühlten), die
Rucksäcke, die Schuhe, und vor allem das mit dem Iihhhschnufa und uusssschnufa, sprich unsere
körperliche Form: Wir waren bereit für den Tupungato, unser eigentliches Ziel.

Auf zum Tupungato

Gonzalo gab uns noch die Russenjacken aus seiner Expeditionskiste, damit waren wir gerüstet und
fast bereit, wenn da nicht…

Unser Berg ist nicht der einfachste. Verortet ist er im Grenzgebiet Chile/Argentinien. Dazu liegt er in
einem militärischen Sperrgebiet, außerdem muss man noch über Privatgelände einer Mine, darüber
hinaus hat er Himalaya-Verhältnisse mit 5.000 Höhenmetern, die es per pedes zu überwinden galt,
ferner hatte man mindestens 3 Tage Anmarsch bis ins Basislager und dann musste man noch die
Maultiere organisieren und…

Wir waren die erste Expedition oder besser das erste Zweimannteam in der Saison. Der Berg war
einsam oder besser: Wir waren einsam. Doch zurück zur Reihenfolge, denn so einfach war es nicht
mit dem Durchstarten.

Lost in Space

Nachdem wir alle organisatorischen Hürden genommen hatten, zum Teil mithilfe unseres neuen
chilenischen Bergkameraden, ein höherer Militär (der das „mal kurz klargemacht hat“, als wir schon
fast am Aufgeben waren), liefen wir nun doch endlich los. Wir liefen und liefen, unendlich lange,
kontinuierliches Laufen. Und wir kamen höher, höher, höher – immer in der Hoffnung, dass die
Maultiere und ihre Besitzer (mit unserem Gepäck) auch dort ankommen würden, wo wir ankamen.
Die Weite war beeindruckend. Obwohl ich schon oft in der Wüste war, hatte ich noch nie ein solches
Erlebnis von Abgeschiedenheit. „Vater und Sohn, lost in space“ hätte die Überschrift lauten müssen,
denn Zeit und Raum scheinen plötzlich unendlich, ach ja, und unser Berg war noch lange nicht in
Sicht.

Widerspenstig ließ sich das Maultier den steilen, steinigen Hang hinunterfallen. „OMG jetzt ist alles
hin“ – dachten wir beide zugleich, Timon und ich. Diese Viecher waren schon verrückt. Das Tier
wollte keinen Sattel verpasst bekommen. Mit einer einfachen Judorolle über den Steilhang versuchte
es, seine „Arbeitgeber“ davon zu überzeugen, dass es kein Arbeitstag war. Unsere Maultiertreiber
schienen unbeeindruckt von der Vorstellung und kannten vermutlich schon den Trick, routiniert ging
es weiter. Packen, laufen, laufen, laufen und weiterlaufen, am nächsten Tag „same same but
different“…

Endlich im Basislager, wenngleich nicht auf der gewünschten Höhe (zu viel Schnee und somit Gefahr
für die Maultiere an den steilen Hängen vereitelten diesen Plan). Wenigstens kamen wir auf über
4.000m Höhe mit tierischem Gepäcktransport. Das Suizidmaultier und seine Treiber verabschiedeten
sich an diesem Punkt. Sie ließen uns zurück, einsam und noch verlassener saßen wir da. Wir stellten
den roten Adlerhorst Marke VAUDE auf und richteten uns so häuslich ein wie möglich. Küche, Klo
und Bad wurden definiert, am nächsten Tag sollte es losgehen.

Iihhhschnufa uusssschnufa den ganzen Tag über Schnee und Fels nach oben, bis wir im Abendlicht
das erste Hochlager auf einem Plateau erstellten. Mein Parasympathikus meldete erste Probleme,
und bei der Fehleranalyse diagnostizierte ich einen leichten Darminfekt. Entsprechendes Papier
hatten wir dabei, aber die Kohletabletten lagen leider im Basecamp. Mein Sohn weigerte sich, die
entsprechende Medikation kurz zu holen, so genoss ich nur bedingt die letzten wärmenden
Sonnenstrahlen, die zwischen den Andengipfeln auf unser Zelt trafen.

Auf dem Weg ins 2. Hochlager.

Nächster Tag: Die Russenjacken bewährten sich. Trotz des blauen Himmels liefen wir in den dicken
Jacken. Es ging uns gut trotz zunehmender Höhe. Mit viel Liebe richteten wir uns am Nachmittag zum
Biwak ein. Unser leichtes Hochlagerzelt musste gegen Wind geschützt werden, und so verarbeiten
wir die herumliegenden Steine zur massiven Trockenmauer. Timon, wie lieb von ihm, kochte für mich
ein Weihnachtsessen – Nudeln mit Tomatensauce, danach noch eine Kraftbrühe. Leider
veräußerlichten sich alle Nahrungsmittel beim abendlichen Zähneputzen und auch mein Kopfweh
verschwand erst nach einer kleinen Acetylsalicylsäure-Dreingabe. Fehleranalyse = leichte
Höhenkrankheit, Gott sei Dank kam kein Herzrasen dazu.

Atemberaubender Blick aus unserem Zelt zum Aconcagua

Am nächsten Tag fühlte ich mich wie ein junger Gott, mein Körper hatte sich über Nacht gut erholt –
auf zum letzten Hochlager.

Der Sturm

Der Wind nahm zu im Laufe des Tages. Gegen Abend suchten wir den besten Platz, den wir finden
konnten, für unser Biwakzelt. Obelix hatte einen Hinkelstein vergessen und dahinter würde es uns
zumindest das Zelt nicht davonblasen und wohl auch keinen von uns. Gleiches Spiel wie am Tag
zuvor, nur die Steinmauer wurde noch besser und massiver. Der Gipfel war zum Greifen nahe,
morgen würden wir oben stehen.

„Zwei Seelen wohnen auch in meiner Brust“… es war Nacht und eindeutige körperliche Signale
zwangen zum Aufstehen und dazu, das Zelt zu verlassen. Aber mein Verstand warnte mich in weiser
Voraussicht davor, dies zu tun. Der Sturm würde mich vermutlich davonblasen, vielleicht sogar nach
Argentinien. Und dort wollte ich nicht hin, zumindest nicht in diesem Kontext. Der Wind wurde über
Nacht zum Sturm, und da wir nun auf 6.000 Höhenmetern waren, in dem winzigen, scheppernden
Biwakzelt, fühlte ich mich deutlich in meiner Komfortzone bedroht.

Timon und ich lagen in Trance im Schlafsack und versuchten, jede Sturmpause als Wetterbesserung
zu interpretieren, aber das Sturmtief schien da zu sein. Da halfen nicht mal mehr die Russenjacken.
Wir lagen bei 80–100km/h Windgeschwindigkeit in unserem Zelt, und es war eher unschön, das niedergedrückte Zeltgestänge auf dem Schlafsack zu spüren – wie lange es wohl durchhält?
Ein harter Kampf, innerlich wie äußerlich: „Packen und runter, so lange es noch geht“, war
letztendlich doch die Entscheidung. Trotzdem schauten wir uns während des Packens immer wieder
an mit derselben Frage im Kopf: Sollten wir es nicht doch versuchen, der Gipfel war zum Greifen
nahe? Wir bekamen Gott sei Dank jedes Mal rechtzeitig die Antwort in Form einer kräftigen
Windböe, die uns fast oder tatsächlich auf den Boden warf. Bob Dylan ging mir durch den Kopf und
er hat einfach recht: … „the answer my friend, is blowing in the wind“…

Zurück im Basislager

Jetzt endlich wieder im roten Palast. Ich liege im Zelt und schaue an die rote Innenwand, wie
gemütlich ist es doch hier. Der Abstieg war ein Ringen mit den Elementen, mit Gepäck kam ich locker
auf 90kg. Trotzdem hatte mich der Wind am Grat zwei Mal einfach umgenietet. Meter für Meter
hatten wir uns heruntergekämpft bis hierher in unser Basislager. Nach all der Plagerei waren wir nun
wieder hier. Es ist schön, endlich im Base Camp zu sein, fast wie zu Hause, was für ein tolles Gefühl …

Home sweet home…

Nachtrag

Über inReach (Satellitenkommunikation) hatten wir den Wetterbericht in unserem letzten Hochlager
eingeholt und diesen auch richtig interpretiert. Das Sturmtief blieb uns nach unserem Abstieg über
die nächsten 4 Tage erhalten, somit war es eine gute, gesundheitserhaltende Entscheidung,
rechtzeitig abzusteigen. Auch ohne Gipfel waren wir mehr als happy, können wir doch zurückblicken
auf eine wunderschöne Erfahrung in den chilenischen Anden, und das als Vater-Sohn-Team.
Vielleicht würden wir wiederkommen zum Tupungato, wir kennen uns da aus…

Über inReach konnten wir mit unseren Maultiertreibern kommunizieren, sie holten uns ab, diesmal
ohne Suizidmaultier. Der Rückweg war lang, sehr lang, aber wir genossen es, denn wir hatten es nicht
eilig, in die Zivilisation zu kommen. Bis auf das Bier vermisste ich nichts mit größerer Dringlichkeit.
Mit Gonzalo verbindet uns eine Freundschaft, und wir freuen uns schon, wenn er uns bald in
Deutschland besuchen kommt.

Text & Fotos: Jürgen Beißwenger

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