Es ist Sommer. Wie viele andere Urlauber bade ich im Mittelmeer und springe in die Wellen des Atlantik. Aber den Weg zwischen den Meeren, den lege ich zu Fuß zurück: in 35 Tagen überquere ich die Pyrenäen, das Gebirge, das sie miteinander verbindet.
Ich setze damit meinen Weg durch das gebirgige Herz Europas fort. Im letzten Sommer habe ich die Alpen überquert, von Ost nach West, der Sonne auf ihrer täglichen Bahn folgend. Auch in den Pyrenäen wärmt sie mir morgens den Rücken und zieht mich am Nachmittag an, als ich über etwa 800 Kilometern durch teils wegloses Gelände, über Schneefelder und Gipfel, durch Scharten und Canyons steige. Nachdem ich im letzten Jahr durch fünf Länder gegangen bin, führt mich mein selbst gelegter Trail hier zwischen Frankreich und Spanien hin und her, sowie durch Teile von Katalonien, Andorra und das Baskenland.
Besessenheit ist der Motor – Verbissenheit ist die Bremse
Der Anfang ist schwer. Trotz Training im Vorfeld fehlt mir in den ersten Tagen die Kraft, die Lust und vor allem das Wasser. Die Region Pyrénées-Orientales, in der ich Anfang Juli am Mittelmeer starte, ist sehr trocken. In dem verbissenen Ehrgeiz, getreu meiner weglosen Route immer am höchsten Punkt der Gebirgskette entlang zu gehen, klettere ich in der sengenden Mittagshitze über staubige Hügel voller Kakteen, kämpfe mit dichten Büschen und sauge mit meinem Wasserfilter die letzten Tropfen aus dreckigen kleinen Pfützen. Schließlich verlaufe ich mich ordentlich und erkenne endlich: Verbissen verfolgte Ziele lassen mich den Weg versäumen. Etwas beschämt über meinen übertriebenen Ehrgeiz, erinnere ich mich daran, was ich schon letztes Jahr gelernt habe: dass ich kaum wahrnehmen kann was um mich und in mir ist, wenn ich nur stumpf meinem Willen hinterherrenne. Als ich mir das eingestehe und einen Gang runterschalte, beginne ich anzukommen.
Ich begegne an einem einzigen Tag hintereinander drei wundervollen Menschen, erfahre ihre Geschichten und ihre verschiedenen politischen Ansichten über die Region und bekomme Heilkräuter für meinen verkrampften Rücken geschenkt. Dann führt mich meine Route höher hinauf, wie als Belohnung für meine Erkenntnis, und ich gehe tief atmend und voller Genuss entlang grasiger Grate, durch neblige Täler und über kantige Gipfel. Kristallklare Seen laden zum frischen Bad ein und in windigen Nächten sehe ich in meinen Schlafsack gekuschelt den Wolkenfetzen dabei zu, wie sie über den funkelnden Sternenhimmel gejagt werden. Morgens schäle ich mich aus dem Schlafsack und mit dem ersten Sonnengruß meiner täglichen Yogasession fließt der hellblaue Himmel durch die Fingerspitzen in mich hinein und gibt mir Kraft und Vorfreude auf den Tag. Die Sonne kitzelt mein Gesicht, wie um mich zusätzlich anzustacheln und schon bald darauf mache ich mich wieder auf den Weg, tief atmend, und immer weiter einen Schritt vor den anderen setzend.
Vorsatz: zerowaste
Ich bewege mich hier ständig inmitten einer wilden Schönheit, die tief in mir nachhallt. Gedanklich führt sie mich immer wieder zu einem Thema, das mich bereits im letzten Jahr bei meiner Alpenüberquerung begleitet hat: die Möglichkeiten und Maßnahmen diese Natur nachhaltig zu schützen. Was Umweltschutz am Berg bedeutet, und wie die Menschen sich in den verschiedenen Regionen von Europa damit auseinandersetzen, darüber rede ich unterwegs viel mit Leuten die mir begegnen.
Ich versuche selbst konsequent zu sein und bemühe mich seit einigen Monaten weitgehend verpackungsfrei oder zumindest plastikfrei zu leben. Auch im Rahmen dieser Tour versuche ich das fortzusetzen, also selbst keinen Müll zu produzieren. Mit großen Vorsätzen ging es los. Ich wollte meine Leser und Follower zu einem Leben ohne Müll inspirieren und am liebsten sagen wie „einfach“ es ist, eine lange Bergtour ganz verpackungsfrei zu unternehmen. Aber zu meinem Ansatz gehört es eben auch, ehrlich zu kommunizieren, wo ich hier auf (meine) Grenzen stoße.
Was ich unterwegs esse kommt zum Großteil aus meiner eigenen Herstellung. Wochenlang habe ich Gemüse, Obst, Fleisch und Soßen gedörrt, um den Müll der Verpackung von herkömmlicher Trekkingnahrung zu vermeiden. Dazu habe ich im verpackungsfreien Supermarkt Couscous, Reisnudeln, Kartoffelbrei, Trockenmilch und Müsli gekauft. Die erste Einschränkung war die Verpackung der Nahrung für unterwegs. Glas ist zu schwer, unendliche Brotzeitdosen ebenso, Stoffbeutel eignen sich nicht für alles. So landete ich dabei, doch ein paar ZipLock-Tüten zu verwenden, die bekanntlich aus Plastik sind. Ich verwende sie zwar immer wieder, aber das war ein erster Dämpfer.
Unterwegs ist es toll jeden Tag meine vielen Zutaten neu kombinieren zu können, und es ermöglicht mir eine gesunde, vielseitige und vitaminreiche Ernährung bei minimalem Gewicht. Aber bald schon beginne ich Ausnahmen zu machen, und kaufe mir hier und da doch eine Tüte Gummibärchen oder eine Tafel Schokolade. Ich merke, wie wichtig mir dieses Zuckerzeug unterwegs ist, auch wenn es vielleicht nur eine schlechte Angewohnheit ist. Ich erkenne wieder eine Schwäche und gleich machen die Gummibärchen weniger Spaß und ich freue mich als ich in meinem nächsten Verpflegungspaket getrockneten Rhabarber finde, der ebenfalls schön sauer und trotzdem süß genug ist, um sie zu ersetzen. Ein paar Wochen später, als sich mein Körper umgestellt hat, merke ich, dass ich kaum genug essen kann, um meinen Energiebedarf zu decken. Ich gestehe, dass mir die Energie für das Projekt wichtiger ist, als die Konsequenz in meinen Vorsätzen. Also kommen mit dem nächsten Paket nun doch wieder meine geliebten ClifBars mit in den Rucksack.
Einfach alles einsammeln
Etwas besser funktioniert es mit dem zweiten Teil meines Vorsatzes: allen unterwegs gefundenen Müll einzusammeln. Ich tue das wirklich und jeden Tag und immer und überall. Dabei bin ich überrascht, wie wenig Müll ich in den meisten Regionen der Pyrenäen finde. Ich würde sagen: weniger als in den Alpen. Natürlich mag das mitunter daran liegen, dass hier weniger Menschen unterwegs sind, aber insgesamt erlebe ich bei den Wanderern hier ein großes Umweltbewusstsein. Und warum überrascht mich das? Vermutlich, weil ich unbewusst das Vorurteil hatte, besonders in Spanien wäre man da achtloser. Im Kontext meines Europaerlebnisses auf dieser Reise finde ich das spannend: Wo kommt dieses Vorurteil her? Ist es ein deutsches Vorurteil? Ist es meine „Alpenarroganz“, dass wir nicht nur die höheren Berge, sondern auch vermeintlich die bessere Umweltpolitik haben?
Je tiefer desto schmutziger
Wenn ich hier weiter oben Abfall finde, so ist es meist offensichtlich verlorenes, nicht aber achtlos weggeworfenes Zeug. Ein Stückchen Sohle, eine noch volle Plastikflasche mit Wasser, eine alte Schnalle von einem Rucksack oder der Teller von einem Wanderstock. Sobald ich jedoch weiter nach unten, und damit in das Einzugsgebiet der weniger bewussten Touristen komme oder auch in ein Skigebiet, da sieht es ganz anders aus. Hier bekommt die Landschaft immer mehr weiße Tupfer: Überall liegen Taschentücher und Klopapier. Aber besonders in den Flüssen liegt auch eine ganze Menge anderer Müll. Wenn je wieder jemand fragt, wie unser Plastikmüll ins Meer gelangt, kriege ich vermutlich einen Tobsuchtsanfall. Jedenfalls kosten mich diese Wege und die spätere Entsorgung meiner Fundsachen viel Zeit und Laune. Um den Humor nicht zu verlieren, küre ich täglich einen „Fund des Tages“. Das ist dann das skurrilste Stück Abfall, oder der seltsamste Fundort. Eine noch geschlossene Dose Paté, die 1996 abgelaufen ist, und die Haltbarkeit von Metalldosen hier draußen noch unterstreicht, ein Kindershirt auf dem „Save the Ocean“ steht oder eine Plastiktüte die so mit einer Wurzel verwachsen ist, dass ich der Pflanze vermutlich mehr schaden würde, wenn ich sie ganz entferne als wenn ich sie ihr lasse. Ich denke mir Geschichten zu den Sachen aus und fantasiere darüber sie in einem Museum auszustellen – am Besten in einem Tourismuszentrum, in das ich explizit dann auch die Jäger einladen würde, bei denen einige aus „alter Gewohnheit“ überall ihren Müll fallen lassen, als wären die Berge ihr Eigentum. Obwohl: Ließe man in seinem Eigentum einfach seinen Müll fallen?
Du möchtest wissen, wie es mit Anas Abenteuer weiter geht und warum die Bergwacht ihren Rucksack mit dem Hubschrauber retten muss? Dann gehts hier weiter mit Part II
Über mich:
Mein Name ist Ana, ich bin in schönen Chiemgau aufgewachsen und ich liebe die Berge. Die Natur und die Berge zu respektieren und zu schützen ist einer der wichtigsten Aspekte für mich am Bergsteigen. Denn die Berge sind kein Fitnesspark, sondern bedeuten Freiheit und Verantwortung gleichermaßen. Ob beim Wandern, Bergsteigen, Klettern oder Splitboarden; beim Biwakieren unter dem Sternenhimmel oder in den Begegnungen mit Menschen; auf einem Gletscher, im Fels, auf einem Wanderweg oder im weglosen Gelände: die Berge sind meine Meister und weisen mir in ihrer ruhenden Weisheit einen Platz zu, den ich selbst nicht besser finden könnte.
Es ist manchmal eine große Herausforderung, den Erwartungen an mich selbst gerecht zu werden. Als ehrgeizige und auch leistungsorientierte Frau empfinde ich mich oft als Getriebene. Das damit einhergehende Tempo überblendet dann die Tatsache, dass ich auch sensibel, verletzlich, oder manchmal auch einfach mut- oder motivationslos bin. Ich möchte beides offen sein können, ohne dabei ungesunde Kompromisse zu machen oder von anderen in Kategorien gesteckt zu werden. Ich bemühe mich also darum, genau mit dieser Dualität als Frau offen umzugehen. Zu den Erwartungen an mich gehört aber ebenso auch der Ansatz, auf meinen Wegen einen minimalen ökologischen Fußabdruck zu hinterlassen, was manchmal sehr schwierig ist. Ich will auch hier ehrlich mit Möglichkeiten und Grenzen umgehen und offen darüber sprechen, wo ich selbst hier auch scheitere.
Wie man daran vielleicht erkennen kann, verbinden sich mit meinen sportlichen Aktivitäten immer auch politische, soziale oder gesellschaftliche Themen. Das Schreiben über diese Themen im Kontext der Berge, und dem was ich in ihnen erlebe, ist zu einem Lebensmittelpunkt für mich geworden.
Am 2. Oktober erschien ihr erstes Buch „ALPENSOLO – Allein zu Fuß von Ost nach West“ bei MALIK (Piper).
Text und Bilder: Ana Zirner
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